Marie Juchacz und die Gründung der AWO

Marie Juchacz wurde 1879 als Tochter eines Zimmermanns geboren und wuchs in dem stark ländlich geprägten Landsberg an der Warthe auf. Bis zu ihrem 14. Lebensjahr besuchte sie die Volksschule und war dann drei Jahre als Dienstmädchen in verschiedenen Haushalten tätig. Anschließend war sie als Arbeiterin in einer Netzfabrik und über zwei Jahre als Wärterin in der "Provinzial-Landes-Irrenanstalt" tätig. Mit dem ersparten Geld konnte sie sich einen Kurs in Weißnähen und Schneiderei leisten. Nach Abschluss des Kurses arbeitete sie in der Werkstatt des Schneidermeisters Bernhard Juchacz, den sie 1903 heiratete. Sie begann, angeregt durch ihren älteren Bruder, sich für die Politik und für die Landsberger Sozialdemokratie zu interessieren. Da in Landsberg keine politische Betätigung für sie möglich war, zog sie nach der Trennung von ihrem Ehemann zusammen mit ihren zwei Kindern und mit ihrer Schwester Elisabeth 1906 nach Berlin um. Beide Frauen wandten sich der Sozialdemokratie zu, engagierten sich zunächst in Bildungsvereinen und bekleideten Funktionen in der sozialdemokratischen Frauenbewegung. 1913 wurde Marie Juchacz bezahlte Frauensekretärin im Partei-Bezirk Obere Rheinprovinz. Damit begann ihre politische Karriere.

Dann kam der Erste Weltkrieg und hinterließ auch in Deutschland ein verheerendes Erbe: eine weitgehend zerstörte Wirtschaft und Infrastruktur, Not, Elend, Hunger für Millionen von Menschen. Die Monarchie war zusammengebrochen, der Krieg, die darauffolgenden Putsche und Revolutionen schufen den Auftakt für eine neue gesellschaftliche Ära. Die deutsche Arbeiterbewegung trat in eine neue Phase ihrer Entwicklung. Sie sah ihre Chance gekommen, dieser neuen Zeit ihren Stempel aufzudrücken. Aktuell galt es, die Not der Bevölkerung zu lindern und gleichzeitig war es das politische Ziel, die unterdrückende und demütigende Armenpflege der Monarchie durch Selbsthilfe und Solidarität der Arbeiterschaft untereinander abzulösen. Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, die Arbeiterschaft zum Subjekt der Wohlfahrtspflege zu machen, das war der Grundgedanke, der schließlich zur Gründung der Arbeiterwohlfahrt führte.

Marie Juchacz rief am 13. Dezember 1919 den „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ in der SPD ins Leben. Sie war zu der Zeit Sekretärin beim Parteivorstand der SPD und Mitglied der Weimarer Nationalversammlung.

Waren bis zu diesem Zeitpunkt Armenpflege und Wohlfahrt ausschließlich Sache von Staat und karitativen Einrichtungen, wie den Kirchen, so traten nun die Arbeiter selbst als Akteure auf. Friedrich Ebert, der erste deutsche Reichspräsident, bezeichnete die Arbeiterwohlfahrt als „Selbsthilfe der Arbeiterschaft“. Doch nicht nur soziales Engagement verband die SPD mit der Gründung ihrer Wohlfahrtsorganisation. Zugleich ging es ihr darum, mit der Arbeiterwohlfahrt politische Interessenvertreterin des gesamten Volkes für sozialen Fortschritt und soziale Gerechtigkeit zu sein. Den kontinuierlichen Aufbau eines funktionierenden Sozialstaates verstand die Arbeiterwohlfahrt als ihr grundsätzliches Ziel. Bis zum Verbot durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 hatte sich die AWO zu einer Organisation mit 130.000 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickelt, die politisch für Verbesserungen in der Sozialgesetzgebung eintrat und praktisch bedürftigen Menschen unabhängig von Konfession und Herkunft half.

Das Verbot – dem einzigen gegen eine große Wohlfahrtsorganisation – traf die AWO hart. Einrichtungen und Vermögen wurden beschlagnahmt. Marie Juchacz musste fliehen, der Verband wirkte jedoch im Untergrund weiter. Im Osten blieb das Verbot erhalten und erst die Wende brachte den Umschwung.

Der Neuanfang im Osten

57 Jahre mussten vergehen, bis die AWO in Ostdeutschland nach dem Verbot durch die Hitler-Diktatur und der Nichtzulassung in der DDR wieder Fuß fassen konnte. In Chemnitz war es Eugen Gerber (1919-2013), der im Alter von 70 Jahre die Aufgabe übernahm, unseren Kreisverband aufzubauen. Unser erster Vorsitzenden und späterer Ehrenvorsitzender erhielt Unterstützung durch den Bezirksvorstand Niederrhein und den Kreisverband Düsseldorf. Nach Informationsveranstaltungen im März 1990 erfolgte die Gründung des Kreisverbandes Chemnitz am 16. Mai 1990. Dank engagierten Wirkens gehört er heute mit rund 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu den größten sozialen Arbeitgebern der Stadt. Er verfügt derzeit über mehr als 50 Einrichtungen, die ein Netz zur Betreuung und Beratung von Senioren, Familien, Kindern und Jugendlichen sowie Menschen in Krisensituationen bieten. So gibt es neben Kindertageseinrichtungen und der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Betreute Wohnanlagen, Seniorenpflegeheime und eine Begegnungsstätte, aber auch verschiedenste Beratungsstellen, ambulante Hilfsangebote und das Kinder– und Jugendtelefon.

In Erinnerung an Eugen Gerber heißt unsere Geschäftsstelle seit 2014
„Eugen-Gerber-Haus“.